Butter bei die Fische VI Stigma & Schweigen
Veröffentlicht: 15. Juni 2013 Abgelegt unter: nuttenrepublik 6 KommentareIch hatte ja noch über einen letzten Blogbeitrag vor längerer Zeit nachgedacht, den Gedanken aber dann verworfen, weil ich so wütend war. Nun bin ich etwas erfrischter, durch meine letzten Reisen nach Frankreich und England, insbesondere auch durch den kanadischen Gerichtsprozess um die Gesetzesreform von Prostitution am letzten Donnerstag. Der sog. Bedford Fall wurde von drei Sexarbeiterinnen auf den Weg gebracht, Initiatorin war Terri Jean Bedford.
Interessen & Interessenvertretungen (Auswahl):
Stella http://www.chezstella.org/stella/?q=en/Bedford
Power http://www.powerottawa.ca/home.html
Pivot http://www.pivotlegal.org/sex_work_groups_from_the_dtes_ready_to_intervene_at_scchttps://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/pivotlegal/pages/84/attachments/original/1345748276/BeyondDecrimLongReport.pdf?1345748276
Der Prozess:
+++ UPDATE 21.12.2013 +++ KANADA KIPPT ALLE GESETZE GEGEN PROSTITUTION – der vollständige Text der Entscheidung http://scc-csc.lexum.com/decisia-scc-csc/scc-csc/scc-csc/en/item/13389/index.do
Gerichtsakten http://www.scc-csc.gc.ca/case-dossier/cms-sgd/fac-mem-eng.aspx?cas=34788
Aufzeichnung aus dem Gerichtssaal http://scc-csc-gc.insinc.com/en/clip.php?url=c/486/1938/201306130500wv150en,001Content-Type:%20text/html;%20charset=ISO-8859-1
Berichterstattung (eine Auswahl):
http://www.cbc.ca/news/yourcommunity/2012/03/should-canadas-prostitution-laws-be-changed.html
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Eines der frustrierendsten Dinge als Sexarbeiterin, zu deren Berufsbild Diskretion gehört, ist es, Angst zu haben, öffentlich zu sprechen und sich in Debatten einzumischen. Aus Angst, sich zu outen. Dies hat mich immer begleitet; die Angst durch andere, geoutet zu werden, hat mich dazu veranlasst, vor Jahren in die Offensive zu gehen.
Dies ist aber schlecht für das Geschäft und Image, das war mir klar; und je deutlicher ich sichtbar wurde, mit meiner persönlichen Meinung, meinen Erfahrungen und Überzeugungen, desto stärker fühlte ich, dass es an der Zeit ist, mir einen anderen Job zu suchen.
Nein, Sexarbeit ist kein Beruf wie jeder andere, wie es all jene akklamieren, die auf das Recht auf selbstbestimmte Arbeit pochen. Oftmals ist Sexarbeit die einzige Möglichkeit zu überleben, in Deutschland und weltweit, weil andere Optionen verschlossen sind oder weil man nicht in einem unterbezahlten Job oder in Abhängigkeitsverhältnissen leben möchte. Sei es eine Ehe mit Versorgungsanspruch unter diktierten Bedingungen oder der Weg zum Arbeitsamt. Viele haben das schon hinter sich, auch die Gängelei und den Zwang in Paarbeziehungen, der einem jede persönliche Entfaltungsmöglichkeit raubt.
Es gibt viele gute Gründe, auch unter legalisierten Bedingungen über diese stigmatisierte Arbeit zu schweigen: es ist nicht nur das Stigma und die soziale Bewertung in unserem und anderen Kulturkreisen. Oft sind es auch aggressive oder dominante SexarbeiterInnen mit wenig Sachkenntnis, die die Wortführerschaft beanspruchen, oft privilegierte, artikulierte Personen, die die Wortführerschaft an sich reissen, aber nicht die Interessen aller SexarbeiterInnen miteinbeziehen. Das Privileg von manchen verstellt den Blick auf die miesen Arbeitsbedingungen, unter denen viele werkeln, Bedingungen, die in die Persönlichkeitsrechte eingreifen, die einen stumm machen und weil man das Geld zum Leben braucht.
Entkriminalisierung ist das Zauberwort, weshalb ich auch die Abschaffung des Prostitutionsgesetzes befürworte, da die gewerberechtliche Zuordnung der einzige Weg ist, Wahlfreiheit von Arbeitsorten zu garantieren und Prostitution als Arbeit anderen Berufstätigkeiten zuzuordnen. Und das bedeutet mehr Schutz und mehr Sicherheit für jene, die in diesem Job gerne arbeiten wollen.
Die vollständige Entkriminalisierung muss in der Praxis bedeuten, dass es möglich ist
– offen zu kommunizieren, Leistungen zu bewerben, Preise und Grenzen mit Kunden zu verhandeln;
– alleine oder mit Gruppen in öffentlichen Räumen ohne Angst vor Bussgeldern oder Verhaftung zu arbeiten;
– über missbrauchende oder diskriminierende Hire & Fire Einstellungen und Praktiken zu berichten;
– für den Zugang zu Arbeitsschutz zu kämpfen und die Verhandlungsmacht gg Dritten zu stärken
– mit anderen zusammen zu arbeiten, auch mit Leuten, die helfen, Kunden zu finden, die Sicherheit und Schutz anbieten, die Dienstleistungen ausführen, die diese Arbeit erleichtern
– mit anderen zusammenarbeiten, so dass viele nicht isoliert voneinander arbeiten müssen
– dass Partner und Menschen, mit denen wir zusammenleben, nicht von Kriminalisierung bedroht sind oder die Kinder einem entrissen werden
Wie SexarbeiterInnen sich bei Anhörungen auf politischer Ebene mit welchen Argumenten engagieren, auch über den Klageweg, wenn sie ihn für die Beseitigung von Sonderverordnungen beschreiten, wie sie Probleme artikulieren und thematisch Schwerpunkte setzen, definiert den Erfolg jeder Reform-Initiative.
Hierbei muss man eins bedenken: Leute aus der Szene, die öffentlich und sichtbar werden, werden beobachtet, kontrolliert und geprüft, zum einen auf eigene Interessenverflechtungen, aber auch, um sie als nicht repräsentativ herabzuwürdigen oder als unpassend zu dem Image von Prostituierten zu verurteilen, das die Öffentlichkeit bzw. veröffentlichte Meinung von ihnen hat. Ziel: um Prostituierte und ihre Stimmen auch weiterhin zu marginalisieren. Dies ist ein Weg, Rechteschutz zu verhindern.
Das Stigma von Sexarbeit bedeutet eine ständige Diskreditierung von SexarbeiterInnen, von allen Seiten. Es bedeutet für jene, die nach vorn kommen und öffentlich werden ein finanzielles, in vielen Ländern auch ein kriminelles Risiko! Dessen muss man sich bewusst sein.
Entkriminalisierung bedeutet, dass Gesetze, die Prostitution zu regeln suchen, die Freiheiten, also bürgerlichen Freiheiten der Sexarbeiterinnen nicht einschränken dürfen. Berücksichtigt werden müssen auch Zuwanderungsgesetze und die negativen Auswirkungen, die Gesetze gegen Menschenhandel in aller Welt auf das Leben von Sexarbeiterinnen haben.
Gesetze oder Bedingungen, an die Sexarbeit geknüpft ist, dürfen nicht restriktiver sein als Regelungen anderer Formen von Arbeit.
Jede Rechtsreform und Rechte-Entwicklung sollte nicht durch Moralismus, sondern durch bürgerliche Rechte und Freiheiten angetrieben werden. Bei jeder Rechtsreform sollten Sexarbeiter aller Geschlechter und aus allen Bereichen der Sexindustrie einbezogen werden, insbesondere Migrantinnen. Schliesslich stellen sie auf Anbieterseite mittlerweile die Mehrheit in den europäischen Ländern.
Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sollten mit arbeitsrechtlichen Vorschriften und Schutzmaßnahmen wie bei anderen Formen von Arbeit begegnet werden. Das Strafrecht ist kein wirksames oder geeignetes Mittel, die Erotikindustrie zu regulieren.
Dritte sind unverzichtbar für viele Sexarbeiterinnen, um sichere Arbeitsbedingungen zu schaffen. In diesem Fall müssen alle Akteure an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen zum Schutz und Sicherheit beteiligt sein.
Was Kontaktverbotsverordnungen, Sonderverordnungen und Sperrbezirke betrifft:
sie verdrängen Sexarbeiterinnen in isolierte und daher unsichere Bereiche;
verhindern, dass Sexworker zusammen arbeiten und erhöht ihre Isolierung
verhindern, sich Zeit zu nehmen, um Autos und Kunden im Gespräch sorgfältig zu prüfen und auszuwählen
schafft illegalisierte Räume und die Wahrscheinlichkeit, nur über Abhängigkeiten von Dritten arbeiten zu können
Repressionen in jedweder Form schaffen nur ein Klima, sich im Notfall nicht an die Polizei zu wenden, zu der unter
solchen Rahmenbedingungen kaum ein Vertrauen besteht
Kriminalisierende Verordnungen
schaffen keinen Zugang zum Arbeitsrecht
schaffen nur ein gegnerisches Verhältnis zwischen Polizei und SexarbeiterInnen, weshalb sie sich in Not nicht an die Polizei wenden
erhöhen negative Behandlung durch Polizei, potentielle Arbeitgeber, Vermieter, Personen im Gesundheitswesen/Sozialarbeit und der breiten Öffentlichkeit
erzwingen zusätzliche Barrieren für SexarbeiterInnen, die den Zugang zu Beratungsstellen suchen oder mit der Sexarbeit aufhören wollen
schaffen Hürden für SexarbeiterInnen, die arbeitsrechtlichen Schutz suchen, um ihre Rechte und Ansprüche durchzusetzen
verstärken die Vorstellung, dass SexarbeiterInnen nicht wertvolle Mitglieder, Bürger dieser Gesellschaft sind und diese Stimmen und Erfahrungen nicht angehört und respektiert werden brauchen, sondern nur als ein „soziales Problem“ wahrgenommen werden, das „geregelt“ werden muss
Daher sehe ich den aktuellen Gesetzesentwurf auch nicht als Grund zur Panikmache, eher als Aufforderung genau hinzuschauen, worüber exakt verhandelt wird. Das einzige, wofür ich weiterhin plädiere ist, dass SexarbeiterInnen aller Geschlechter, kultureller Herkünfte, Arbeitssettings, jene mit und ohne Privilegien in die Beratung um Auflagen, die bei ihren künftigen Arbeitsplätzen gelten sollen, einbezogen werden. Dies muss transparent und der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, welche Interessengruppen welche Auflagen verhandeln und mit welchem Ziel.
Ich finde dies eine sehr gute pointierte und analytische Erläuterung der Probleme, welche das aktive Einbringen von SW in politische Diskussionen zeigt.
Dazu kommt, dass mediale Aufbringen eines Themas ja von einem zielorientierten Auftrag der Redaktionsleitung und unter Umständen auch des Herausgebers /-in bzw. Inhabers –in herrührt.
Aber Ariane, wir wissen doch die Prozentzahlen aus unserer studentischen Sturm- und Drangzeit, was damals für brisante Themen an Interesse da war.
Deshalb müssen wir weiter unsere Ansichten streuen. Da ist es beim laufenden Gesetzesvorhaben ein leichtes, auch ohne sich als Freier zu outen, dies für einen Rechtsstaat unwürdiges Vorhaben anzuprangern.
Gruß Wolfgang
Danke Wolfgang für deine Antwort. Und zu all deinen Ausführungen: ja, ja und ja.
Sei umarmt,
S.
Hallo Ariane
Sexarbeit ist keine Arbeit, kein Job wie jeder Andere. Auch wenn das immer wieder zum Ausdruck gebracht wird – es stimmt einfach nicht. Das es Frauen gibt die mit sich und der Sexarbet im Reinen sind steht auf enem anderen Blatt.
Sexarbeit ist wie einige Krankheiten wie z.b. HIV – Menschen mit HIV (Die Lepra Kranken des 20/21Jahrhunderts) negativ konnotiert. Gesellschaftliches Stigma, Diskriminierung, Kriminalisierung, dies zu überwindern, dazu braucht es sehr viel Mut – i.e. ein starkes Selbstbewußtsein da man gegen einen starken gesellschaftlichen Strom schwimmt. In Deinem – Euren Fall ist es ungleich schwerer.
Es ist ein Prozeß der auf zwei Ebenen stattfindet. Der pers Ebene (und schon der ist heftig) und der gesellschaftlichen Ebene. Gleiche Rechte für alle. Was diesen Kampf betrifft, Du hast es sehr gut auf den Punkt gebracht.
LG alivenkickn
@alivenkickn
Meine Positionen hatte ich ja letzten Oktober zusammengefasst und auch öffentlich, informell, in der Politikberatung lange dafür gestritten. Grundlage war die alte Gesetzesvorlage. Die neue sieht garnicht so schlecht aus, wobei die Auflagen für die Bordelle ungeklärt sind. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/137/1713706.pdf
Was die Erlaubnispflicht betrifft, die wurde und wird doch eh mit Strohmännern umgangen, weshalb ich auch für die Anzeigepflicht plädiert hatte, auf der Grundlage der alten Gesetzesvorlage.
Man kann doch wirklich konstatieren, dass im Mittelpunkt letztjährig wie heute die Bordelle stehen, die nun sogar ins Gewerberecht bundeseinheitlich überführt werden sollen. Laut Gesetzesvorlage. Eine Forderung, die im ProstG Kompromiss nicht durchkam. Das ProstG wurde damalig auch von der FDP gestützt.
Ich muss gestehen, dass sich nach meinen Kenntnissen, Erkenntnissen, Wissen und der Umgang von Gruppen und vieler Individuen sowie der unsäglichen Berichterstattung für mich ein Fazit ergibt: der Gesetzgeber ist schlauer als jene, die sich von Betreiberinteressen vor den Karren spannen lassen. Desweiteren tut es mir leid, dass ich über einen sehr langen Zeitraum von mehreren Jahren niemand für aktive Lobbyarbeit begeistern konnte und auch die Institutionen, in denen ich ‚Beirat‘ war, haben mich 0,0 überzeugt. Weder, was ihren Informationsstand über dieses komplexe Thema betrifft, noch wofür sie streiten und wo sie nicht unterstützend wirksam waren und sind.
Es ist eine insgesamt trostlose und traurige Story, über die man eigentlich ausführlich Bericht erstatten müsste, um an diesem Beispiel aufzuzeigen, wie Interessenpolitik in Deutschland funktioniert und wann welche Gruppen und Individuen plötzlich auf das Thema Sexworker Rechte aufspringen, wer von wem finanziert wird und welche akademischen Trittbrettfahrer sich des Themas plötzlich bemächtigen. Natürlich nur im Namen der Sexworker Rechte. gg
Mehr geht nicht.[…] https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/09/netzwerke-i-und-warum-ich-tu-was-ich-muss/ https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/11/ii-gesetzesnovellierung-trifft-realitat/ https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/11/iii-daten-fakten/ https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/12/iv-task-force-fur-sexworker/ https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/13/v-handlungsempfehlungen/ https://nuttenrepublik.wordpress.com/2012/10/13/vi-ich-klage-an/ […]
[…] Butter bei die Fische VI Stigma & Schweigen […]
[…] sie brauchen ihre Sexkunden, die müssen wiederkommen und das tun sie nicht, wenn man was verrät. Den Mund halten, das können die Frauen und müssen sie, sonst geht das alles nicht. Die Kunden können sehr nett sein, aber die Polizei hilft einem eigentich nie weiter. Da ist doch […]